Es muss an der Leitung liegen… Eliten und Elitenkritik

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Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus –

und kehrt nie wieder zurück.

Gabriel Laub

Oben und unten, Befehlen oder Gehorchen – Polarisierungen begleiten die Menschheit seit dem Ausgang aus urgesellschaftlicher Eigenversorgung.[1] Doch selbst in grauer Vorzeit herrschte alles andere als eitel Harmonie. Führen und Folgen hatten sich schon eingespielt, denn soziale Verbände sind auf Dezision angewiesen, um zu überleben. Entscheidungen aber haben Konsequenzen, sie sind auszuführen und zu überprüfen.

Auch ohne sichtbare Herrschaftsformen (Akephalie) bestand Vorrang durch Kraft, Entschlossenheit oder Heilswissen, später zählte man durch Geburt zur bestimmenden Schicht. Erst seit der demokratischen Moderne unterliegen die Tonangebenden jedenfalls in der Politik formal der Bestätigung respektive Kontrolle von unten,[2] von wo aus man durch Anstrengung nun auch in die besseren Ränge aufrücken kann.

Das Wirken der Machtverwalter sieht sich zudem erörtert, seit der Medienmarkt floriert. Loyalitätssicherung durch messbare Leistungen ist indes keineswegs zum Gütesiegel der Vorderleute geraten. Auch periodische Wahlchancen ändern daran wenig, sind deren Spielräume doch parteirational kanalisiert. Auf den Einflussebenen, die sich etabliert haben, geht es um individuelle beziehungsweise gruppale Extrachancen, wie eh und je.[3] Das trifft zu, trotz der – lange verzögerten – formalen Zulassung von politischen Gegenkräften. Selbst diese unterliegen Tendenzen zur Abschließung, ja Oligarchisierung, auch wenn Robert Michels diesen Sog mystifiziert haben mag, hielt er ihn doch für unumkehrbar. Die Moderne wurde aus der Heteronomie keineswegs entlassen, lautet das Fazit, nicht nur politisch nicht,[4] obschon es den Bürgern dank vielfältigerer Optionen so vorkommen mochte. Gerade diese steigerten indes den Mode- oder Flexibilisierungsdruck – und damit wiederum die Fremdbestimmung.

Die Zukunft der „Neunmalweisen am Ruder“ (Theodor Fontane) ist also garantiert, verstanden als Kader, die sich durchgesetzt haben, was allemal einen Erfolg der Selbstbehauptung darstellt. Ellenbogen haben jedoch nicht unbedingt etwas zu tun mit Überblick und Sachlichkeit. Oder mit dem Engagement für das Gemeinwohl. Das suggerieren die Selbstbilder aller Eliten allerdings. Und sie bedienen so die verbreitete Hoffnung auf positive Führung. Auch die Gegenwart muss stattdessen mit der Illusion einer verantwortlichen Spitzenauslese leben. Der Moderne ging es trotz aller Öffnungsprozesse weniger um Autonomie – höchstens um Emanzipation. Seit Lorenz von Stein sahen sich daher Integrationslehren entworfen, die den sozialen Abstand, der anthropologische Vorgaben spiegelt, trotz oder auch wegen der Mobilitätschancen politisch zu stabilisieren geholfen haben.

Für keine Regierungsform sind Spitzenkräfte mit Weitblick und einer entsprechenden Fähigkeit, zu koordinieren, unentbehrlicher als für die Demokratie. „Open access societies“ (D. C. North) produzieren ein verwirrendes System der Aufgabenteilung zwischen unterschiedlichen, sogar abweichenden Seinsweisen, Problemfeldern beziehungsweise Produktionswelten, die einer Optimierung ihres Personals bedürfen. Obschon nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung für die Förderung von Leistungseliten plädiert, die Mehrheit sich mehr Chancengerechtigkeit wünscht, begünstigte jene „Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk“ (Abraham Lincoln) eine explosive Vermehrung von funktionalen Rangplätzen. Denn die wachsende Komplexität förderte über neue Anforderungsraster vielfältige Nachfrageprofile. Entsprechend geriet der Zugang zur Elite poröser, spielten sich Prozesse der Einebnung ab.[5]

Wie kommt es dann, dass sich trotz aller Öffnungsprozesse die Distinktion erhält? Gleichsam als Politur der demokratischen Normalhöhe? Und mit ihr eine finanzplutokratische overclass,[6] von der schon Émile Zola (L’argent, 1891) berichtet, die im Hintergrund bleibt – und doch die gesellschaftliche Agenda mitprägt? Mag es neuzeitlich nach dem Kriterium der Durchsetzung gehen und nicht mehr nach ererbten oder zugewiesenen Rollen: Das Oben-Unten-Gefälle erweist sich als das Regelhafte im Wandel. Es sollte daher von Schichtung die Rede sein,[7] wo vorgeblich nur Milieus zu vermessen sind, nur weil das soziale Erscheinungsbild konformer geworden zu sein scheint.

Die gefällige Selbstbildpflege der Informationsmoderne, wonach jeder selbst sein Geschick verantwortet, erschwert indes den Blick auf soziale Gefälle hinter den medial gepflegten Du-kannst-Allüren, über die schon bei Thorstein Veblen nachzulesen war. Tatsächlich erweist sich die Banalisierung der Ausgrenzung als Hemmschuh der die späte Moderne ansonsten kennzeichnenden Mobilität. Nebenfolgen der neoliberalen Unverantwortlichkeit sowie Flexibilisierungszwänge oder Verwahrlosung streuen ebenso unberechenbar wie ökologische beziehungsweise kriminologische Risiken.

Rückblende

Solange die durchweg männliche Arroganz der Macht selbstver-

ständlich wirkte, waren Stellung und Ansehen der ersten Reihe institutionell begründet und blieben stabil, meist über große Zeiträume, was Wechselfälle der Ordnungen nicht ausschloss. Denn nicht bei den Massen liege die Gefahr, wie diejenigen glauben, „welche hypnotisiert in die Tiefen der Gesellschaft starren“, kommentierte Max Weber[8]: „Nicht eine Frage nach der ökonomischen Lage der Beherrschten, sondern die vielmehr nach der politischen Qualifikation der Herrschenden … ist der letzte Inhalt des sozial-politischen Problems“. Die Völker lassen sich als alles Mögliche bezeichnen, nicht jedoch als aufrührerisch, wenngleich sie leicht erregbar sind.[9]

Die „Hydra der Revolution“ (Franz Hitze) war eher selten zu sehen – durchgängig herrschte „Affirmationsbereitschaft“ (Heinrich Popitz) -, bedenkt man das Leiden an der Herrschaft. Umbrüche durch Auflehnung des großen Haufens blieben die Ausnahme und wurden noch dazu eher durch Eingriffe in das Gewohnte von oben ausgelöst als tatsächlich durch so etwas wie eine wiederholte secessio plebis; zumeist resultierten sie aus Rangeleien der Sanspareils untereinander respektive spiegelten ein eklatantes Versagen der Oberschicht in Krisenzeiten. Die Menschen sind Gehorsamsstreber, ihr Sicherheitsbedürfnis rangiert vor dem Freiheitsverlangen, was Kommandostrukturen aller Art erleichtert. Wir übertragen Anpassung und Vertrauen der familialen Sphäre auf den öffentlichen Raum und sind enttäuscht, wenn es dort nicht zugeht wie in einer behüteten Kinderstube, sondern eher wie in der Villa Kunterbunt.[10]

Daher rührt jener Zug zur Beharrung, der fixieren half, was Halt bot in dem sozialen Mobile.[11] Bevormundung lässt sich offenbar leichter ertragen als Un­ordnung. Und Freiheit ist – wie Armut oder Niedergeschlagenheit – eine Frage der Wahrnehmung, jedenfalls solange politische Raster fehlen, durch die sich festgelegt sieht, was zur Mindestausstattung dynamischer Verhältnisse zählt.

Folglich bleiben Eliten am Ruder, auch wenn sie, wie schließlich der Adel, dann der Rentier, parasitär werden, weil sie – außer vielleicht in medialen Traumwelten  –  keine wirklichen Allgemeinwohl-Aufgaben erfüllten, aber Ansprüche stellen. Das Auf und Ab der Optimaten bildete jedenfalls neuzeitlich im Regelfall ohnehin das Ergebnis von äußeren Einflüssen, jenen überraschenden Wendungen der Dinge mithin, die ins Neue weisen und den Gang der Gewohnheiten stören.

Moderne Zeiten

Schichtung fällt von Land zu Land unterschiedlich aus, Eliten sind indes in allen Sozialgebilden federführend. Mit diesem Begriff werden seit Harold D. Lasswell jene Höhergestellten definiert, die am meisten von allem bekommen. Auch nach Ablösung der alten Herrenschichten durch eine Vielzahl spezialisierter Spitzen ist die Rede von einer Minderheit von top dogs, die im Wirtschaftsbereich über mehr Reichtum verfügt, in der Politik größere Macht ausübt, in der Kultur breitere Wissensreserven verwendet oder als Mitglied von Standeseliten höheres Ansehen genießt, so dass sich Stellung (Spitze einer Rangordnung) und Funktionsmacht (verbindliche Entscheidungen) ergänzen. Die je nach Tradition eher interagierend, fragmentiert oder konkurrierend auftretende Statuselite reklamiert im Rahmen der geltenden Marktideologie zudem, dass dieser Zustand ebenso verdient wie rechtschaffen sei, besonders unter offenen Gegebenheiten.

Die politische Eselsbrücke, über die solche Divergenzen nicht

nur als erträglich, sondern als sinnvoll zu rechtfertigen sind, ist die sich seit der Reformation in den Vordergrund schiebende Leistungsideologie, laut der sich Rang und Verdienst – beziehungsweise ihr Gegenteil  –  entsprechen. Kennzeichen der Elite als Erfolgsjäger sei es, dass sie im Gegensatz zur Menge der Kopisten nicht nur die Blaupausen zeichnet, die unsere Zukunft sichern, sondern diese verbessert und gegebenenfalls überwin­det, falls die Dinge stagnieren. Im Bild einer notwendig meritokratischen Überwölbung der Gegenwart bestimmt sich Elite aber nicht nur als Auswahl auf Grund von Begabung und Spitzenleistung; ihr kommt auch Verantwortung für die Gesellschaft zu. Sie sei immer zugleich als soziales Engagement aufzufassen, wenigstens im Ergebnis. Mit Blick auf die sich ausbreitende Übervorteilungslogik samt sozialer Sezession oben (Plutospäre), Frustration und Egozentrik mittig (Bürgertum), Verwahrlosung und Apathie unten (Prekariat) ist allerdings zu fragen, ob die Eliten verdienen, was sie beanspruchen? Es bleibt offen, ob Staat, Gesellschaft und Wirtschaft schlicht ‚Beute’ darstellen, wie nicht nur Pierre Bourdieu vermutet hat, Oder ob von einer strukturellen Überforderung des Regelungsapparates durch Erwartungshaltungen und Wählerwünsche zu reden ist.

Nach welchen Kriterien lassen sich Leistungen der Weichensteller beurteilen? Gibt es verbindliche Vorstellungen, an die zu appellieren wäre? Und wer haftet für Schäden durch die ruling few, wenn allenthalben eine heterarchische Unzuständigkeit beziehungsweise Gleichgültigkeit besteht, wie die Systemtheorie es formuliert?

Aufgabe

Die westliche Welt wirkte traumatisiert durch die Verwüstung der Twin-Towers. Sie war zugleich beeindruckt vom Ethos der Polizisten und Feuerwehrleute, die zu Hilfe eilten – und wussten, dass sie ihr Leben riskierten. An solches Verhalten dachte Arnold Gehlen[12], als er über Fragen einer angemessenen Elitenrolle nachdachte, was angesichts der Verstrickungen hiesiger Führungsetagen in den Braunjahren noch ein Tabubereich war. Die neuerstandene Politikwissenschaft versuchte den Elitebegriff ideologisch zu entlasten, indem Wertungen zugunsten reiner Funktionsbeschreibungen vermieden wurden.[13] Gehlen hingegen bezog sich auf ältere, urteilende Aufgaben wirklicher Eliten. „Was ist das Höhere der Höchstgestellten?“, hatte Friedrich Hebbel[14] in diesem Sinne gefragt: „Das Gefühl der Gesamtheit“. Während im Rahmen einer konstatierenden Sozialvermessung die Zusammensetzung, Streuung und Offenheit der Rekrutierung oder der Nachhall der großen Entscheider betrachtet zu werden pflegten, brachte Gehlen Bewertungen ins Spiel. Elite definiert er normativ, indem Maßstäbe und Unterscheidungen beibehalten werden. Es geht nicht nur um Handlungskoordination, sondern um diskursive Zielbestimmung und die Durchsetzung von Programmen. Gehlen erläuterte diese Qualitätsprüfung genauer. Nicht alles, was Position und Namen hat, zähle zur Elite, eine Kutte mache noch keinen Mönch. Stattdessen dachte er an „asketische Eliten“. In Manhattan handelte es sich demnach keineswegs um ‚Heldentum’, etwa im Verständnis eines Thomas Carlyle, der die Überwindung des ordinären Lebenstriebes als verbleibende Lichtquelle im „Dunkel der Welt“ ansah. Gehlen wertete nicht nur die Bereitschaft, sich im Extremfall zu opfern, als zivilisatorische Errungenschaft; Selbstlosigkeit gehöre zum Ethos öffentlicher Rollen. Gefragt sei die Fähigkeit, eigene Ziele, die motivational nahe liegen, frei nach ‚In serviendo consumitur’ höheren Zwecke nachordnen zu können, nicht nur im Amt: Also nicht sich zuerst zu retten, wie der Costa-Kapitän Francesco Schettino,[15] sondern die ihm Anvertrauten.

Eliten und ihr Wirken sind mithin einzig im Rahmen eines gemeinwohlorientierten Konzeptes zu bewerten, so schwierig dieses unter pluralistischen Vorzeichen zu eruieren ist. Ansonsten haben wir es mit higher orders zu tun. Deren soziale Rolle war immer eher dubios, wenn und weil die Karriere ihr eigentliches Programm darstellt. Wo das Interesse spricht[16], haben – außer starken Emotionen – andere Beweggründe zu schweigen. Erweist sich die Geschichte deswegen als Abwrackplatz von Eliten, was Fehlleistungen von zu ihrer Zeit als ‚Elite’ hofierter Führungskader zeigt?

Leistung

Wenigstens in der leistungsorientierten Gesellschaft mit ihrer Akzentsetzung auf die funktionale Autorität, die außer Begabungen und Fleiß keine anderen Startvorteile kennen sollte, stellen die Erfolgreichen eine Aristokratie des Talents dar, bis hinein in die Zirkel antisozialer Gegenkräfte. Wir haben es im Guten wie im Schlechten mit Rangkletterern zu tun, keine Rede mehr von Gnadenwahl oder Sonderchancen, selbst wenn man sich seine Familie gar nicht sorgfältig genug aussuchen kann. ‚Those in command’ müssen eine harte Konkurrenz um die ebenso knappen wie materiell und/ oder immateriell hochdotierten Positionen bestehen. Als Manager, Wissenschaftler, Minister, General oder Bürgermeister sind diese Stützen des Gemeinwesens unerlässlich für die Routine, zuweilen für deren Erneuerung. Als Experten für Rendite, Entscheidungen, Illusionen, Sicherheit oder ähnlich öffentliche Gebrauchs-, vielleicht sogar Bedarfsgüter zählen sie für den Volksmund insgesamt zur Elite: Auch nachdem diese Personengruppen – eigentlich rar –  im Gefolge der fortschreitenden Arbeitsteilung und Ihrer Aufgabenvermehrung zugleich umfänglicher, konturloser und vor allem zunehmend bürokratisch vernetzt gerieten.

Der Gegensatz von Hoch und Niedrig ist aus dem öffentlichen Bewusstsein abgedrängt, obschon monetäre Gipfelhöhen die Medien füllen; ohne diesen Kontrast bleibt die Soziallandschaft aber opak. Im Elitenbegriff wird die Nützlichkeit dieser Spannung unterstellt. Während Gehlen an Führungskräfte dachte, die sich wenigstens zeitweilig vom „Wettrennen nach Wohlleben ausschließen“ und zudem das Gute eher als das modische Gerechte vor Augen haben, verengte sich die Diskussion um die Elitenrolle auf den gesellschaftlichen Leitungsbedarf – minus Zukunftsvisionen. Soziale Zersplitterungen und die wachsende Unübersichtlichkeit erzeugen Entscheidungsdefizite, die gedeckt werden wollen. Eliten sind Eliten, weil sie high and mighty wirken und derart wahrgenommen werden, selbst wenn sie keineswegs das Notwendige veranlassen. Diese beschreibende Sichtweise hatte Rückwirkungen auf das Elitenverständnis. Es löste sich aus dem Schatten jener aristotelisch-christlichen Tradition mit ihrem Traum von einer ‚Herrschaftsbelehrung’. Frei nach ‚alle Menschen sind gleich vor Gott’ hatte die alteuropäische Pflichtenlehre bis hinein ins 18. Jahrhundert politische Aspirationsniveaus formuliert, wenn auch selten ein gehalten. In dieser Überlieferung war zwar die Notwendigkeit von ‚Obertanen’ unterstellt, denn „wo kein Regent ist, zerstreut sich das Volk“, wie Thomas von Aquin es sah. Dennoch ging dieses Elitenmodell laut Fürstenspiegel aus von einer normativen Rolle des Establishments: Es habe sich um Ausgleich zu kümmern. Wenn diese fehle, so schon Kirchenvater Augustin, sind Staatsgebilde dann etwas anderes als größere Räuberbanden?

Inzwischen wirkt mit Blick auf Leitungspersonal sowie Prominenz der wertende Amts- wie Elitenbegriff abgestanden. Seine Maßstäbe entsprechen nicht einer postmodernen Fuzzy-Ethik, waren vielleicht immer utopisch, selbst als regulative Idee. Seit die überlieferten Quellen der Zuversicht wie Glaube, Ehre, Pflicht oder Patriotismus verblassen, ist nicht zuletzt als Folge der sozialen Diffusionslogik das Verdienst durch den Verdienst verdrängt. Wenn im Massenbetrieb keiner verantwortlich zeichnet, oder falls, wie in Politik und Bürokratie, selbst abduktiv, also von den Folgen her betrachtet, Kontrollkriterien (Nachhaltigkeit etc.) fehlen oder ignoriert werden, bleibt kein Prinzip übrig, das nachhaltig genug wäre, um Geldliebe,  Machthunger und Geltungstrieb als Handlungsmotivationen ausbalancieren zu können.

Somit ist frei nach ‚Zum eigenen Vorteil auf Kosten anderer’ die Durchschnittlichkeit der Leitungskräfte zu konstatieren. Selten sind sie elitär im anspruchsvollen Sinn. Stattdessen trat ein modisches Kriterium ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es geht nicht mehr um das rechte Handeln, sondern um die sakrosankte Nützlichkeit für die Bereiche, in denen sich Eliten auf gesellschaftlichen Hochlagen klärend, anordnend oder reklamierend über „das Vulgus der Köpfe“ (Arthur Schopenhauer) erheben wollen.

Doch selbst eine Prüfung des neoliberal eingeforderten Funktionswertes[17] (Assessment) hätte zur Folge, den Zuständigen in Staat und Wirtschaft die rote Karte zu zeigen. Sie haben weder die Aufmerksamkeit verdient noch die Geduld, die ihnen entgegengebracht wird. Allerdings fehlen praktikable Alternativen (self-government), jedenfalls mit Blick auf Stabilität als der zentralen Leitkategorie politischer Theorien. Von dannen der Spott, die Demokratie sei für das Volk gemacht, dieses mangels – oder durch zuviel (Wutbürger) – Engagement aber nicht für die Demokratie. Nur etwa 3 Prozent der Erwachsenen sind hierzulande parteipolitisch organisiert.[18] Lässt die Undurchschaubarkeit der Informationsgesellschaften keine größere Beteiligung zu? Demokratie als government with the people wäre an deren Lebensbereiche erst heran zu führen, etwa durch Möglichkeiten zur vorgelagerten Partizipation mit Erfolgsaussichten. Die Passivität im öffentlichen Raum resultiert auch daraus, dass die Menschen von dem, was als politisch definiert ist, zwar betroffen sind;  doch werden sie immer nur vorübergehend motiviert, sich zu engagieren, da sich auch durch Mittun nichts ändern zu lassen scheint. Die Filter zwischen Beteiligung und Dezision wirken allzu undurchdringlich. Der „Einzelne und das Allgemeine“ sind zwar  politisch nicht mehr „durch eine unendliche Kluft voneinander geschieden“, wie Friedrich Schlegel es noch sah[19], über die „man nur durch einen Salto mortale hinübergelangen kann“, aber trotz ihrer medialen Präsenz bleibt die Welt der Entscheidungen für die große Mehrheit doch eine Zone ohne Zugangscodes.

Wie weiter?

Lässt man die Kultureliten beiseite, mithin auch die Symbolarbeiter im Aufwind des Arbeitsmarktes, fällt die Leistungsbilanz der für das Gedeihen der Moderne zuständigen Kräfte trübe aus. Kann man bei den Aufsteigern schon keine sozialmoralischen Pflichten anmahnen, so stimmt der Verweis auf ihren hohen Gebrauchswert ärgerlich. Das gilt nicht so sehr für das Management, denn hier haben wir es mit ‚Funktionseliten’ zu tun, die unter Wettbewerbsdruck und damit als Rollenträger einem Sachzweck folgen, in diesem Fall der Rendite, und nicht sozialverantwortlichen Spielregeln: Trotz aller Debatten über die Wirtschaftsethik. Firmenpleiten wären mit Blick auf die Lage der Beschäftigten unethisch, das Wettbewerbsverhalten selbst kann es nicht sein. Ethische Kriterien können nur das Handeln der Akteure extra mercatum betreffen, jedenfalls soweit diese nicht den Marktprozess selbst schützen müssen.

Weswegen die Verträglichkeit wirtschaftlicher Extramacht mit den Prinzipien einer normativ-tutelitären Demokratie à la Giovanni Sartori zu bezweifeln ist, der über die Bändigung der politischen Dämonen wie über ein „Experiment der Vernunft“ spricht. Von einer dialogischen Form der Zuteilung von Macht gar nicht zu reden, Debatten über eine interaktivere Verwaltung hin oder her: Eher sind Schwanengesänge[20] auf die Bürgerbeteiligung zu hören, trotz aller Protestumzüge, da sich das Politische vertikal sowie horizontal zunehmend vom Volk, von dem die Macht eigentlich ausgehen soll, entfernt: Oder ihm nur mehr theatralisch, populistisch oder gar alternativlos dargeboten wird. Diese und andere Tendenzen wie die Entleerung demokratischer Gepflogenheiten durch die Verlagerung von Entscheidungen in außer- oder vorpolitische Bereiche, wären Gegenstand einer Elitendebatte, welche nicht nur Anspruch und Wirklichkeit der Alpha-Positionen abgleicht, sondern sich mit deren Gleichgültigkeit gegenüber bewährten Regulatorien wie Zugehörigkeit, Engagement und Selbstkontrolle beschäftigen müsste. In einer Zeit, die der freien Marktwirtschaft das Wort redet – welcher praktikablen Wirtschaftsstruktur auch sonst? -, ist von Fragen wie diesen kaum die Rede, jedenfalls nicht mit Blick auf die Implementation von größerer Bürgernähe, die allerdings nicht unproblematisch wäre, so wie die Dinge liegen. Vermögen Märkte wie Massenmedien doch Psychosen zu schüren, weswegen die Demokratie sich präventiv  – man denke an die dem politischen Zugriff entzogenen einleitenden Artikel des Grundgesetzes – vor zuviel Demokratie wiederum schützen können muss.

Was ist mit der Hoffnung auf die politische Klasse als die in der allgemeinen Wahrnehmung wichtigste Gruppierung mit elitärer Aura? Sie ist anderen als öffentlichen Belangen verpflichtet, denn Einschaltquoten und Wählergunst sind ebenso gnadenlos wie rote Zahlen. Einmal abgesehen von der skeptischen Frage, ob ‚Politik als Beruf’ und Demokratie  –  nicht unbedingt theoretisch, doch im Alltag – über Kreuz liegen, wäre das Vertrauen in eine Minorität, die regiert, verwaltet oder entwirft, durchaus zu rechtfertigen: Wenn schon nicht durch ihren Anstand und ihre Verantwortlichkeit, immerhin aber, indem sie durch  Effizienz und Kreativität überzeugte.

Ist in der Parteiroutine respektive auf dem Wählermarkt vom Leistungs- und Leitungswillen der Führungsschichten für das Gemeinwohl etwas zu verspüren? Resultieren die Entscheidungsnöte der politischen Klasse nicht eher aus dem Schielen nach Popularität als aus dem Ringen mit dem Sachnotwendigkeiten? Geht es also vor allem darum, „the semi-sovereign people“ (E. E. Schattschneider) bei Laune zu halten? Wie auch immer?



[1] Nun erst, nach der „Teilung der Verteilung“ (Max Weber), zeitigte dieses Gefälle auch materielle Folgen.

[2] Die durch Charisma beziehungsweise Demagogie ausgehebelt werden können: Gerade die Plastizität der Demokratie, selbst der wehrhaften, gefährdet ihre Offenheit.

[3] Man denke an die höfische Gesellschaft, auch dort stand die cura sui im Vordergrund, selbst wenn von Glaube, Wohlfahrt, höherem Ruhm die Rede war, wie sich dem ersten modernen Roman entnehmen lässt (Madame de La Fayette: Die Prinzessin von Cleve [1678]), der den Rangrangeleien der damaligen Führungsschichten auf den Grund geht.

[4] Durch die Rückkoppelung von Macht an ihre formale Bestätigung nahm das Entscheidungsvolumen keineswegs ab, eher noch zu, selbst wenn alles zugänglicher wurde und vor allem rechtlich regulierter.

[5] So kam die Aufwärtsmobilität in Gang, aber auch intergenerative Abstiegsgefahren nahmen zu.

[6] L. C. Thurow: Die Reichtumspyramide, Regensburg: Metropolitan 1999. Auch James Kurth: The foreign policy of plutocrats, The American Interest, November/ Dezember 2011, S. 5 ff.

[7] In der Postmoderne nicht aber mehr von Kaste, Stand oder Klasse, die eine gruppale Fixierung suggerieren.

[8] Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895), Gesammelte politische Schriften, München: Drei Masken 1921, S. 29.

[9] Was nicht heißt, dass die Generationen, die sich im Dunkel der Zeiten verlieren, das Verhalten ihrer ‚Oberkeit’ (Luther) guthießen. Vor allem dann nicht, wenn diese – aus welchen Gründen immer – darauf verzichteten, zu führen. Dann verkam nicht nur der Besitz der Macht zum Missbrauch; vielmehr sahen sich Stadt und Land durch die Verwahrlosung der öffentlichen Belange gefährdet, nicht zuletzt von einer ziellosen Regierungssucht selbst.

[10] Nichts wünscht sich der Einzelne mehr als Zugehörigkeit, die Identität stiften soll und Gemeinschaftlichkeit verspricht. Und der entsprechende Wille zur Verehrung für – je nachdem  – Heilige, Helden, Führer, Stars oder sonstige Figuren mit Nimbus und Prestige scheint eines der stärksten Gruppenbedürfnisse zu sein. Konformismus hat noch jede Sozialfiguration getragen, um von modischen Auswüchsen im Zeitalter der Individualisierung nicht zu reden.

[11] Auch das später so avantgardistische Europa verharrte im Gehorsamsschlaf, bis die Industriemoderne aus funktionalen sowie kommerziellen Gründen das „Aufkommen der Rotüre“ (Theodor Fontane) benötigte.

[12] Vgl. Die Rolle des Lebensstandards in der heutigen Gesellschaft, in ders.: Gesamtausgabe, Bd, 7, Frankfurt am Main: Klostermann 1975, S. 19 f.

[13] Typisch Otto Stammer: Das Eliteproblem in der Demokratie, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft Band 71 (Berlin 1951). S. 1 ff. Diesem Ansatz ist die Forschung hierzulande bis heute verpflichtet.

[14] Tagebücher (November 1846), 2 Bände, Hrsg. Theodor Poppe, Berlin/ Leipzig, Bong & Co, o. J., Band 2, S. 31.

[15] Concordia: le commandant contre-attaque, Figaro vom 23. 1. 2012, S. 9.

[16] Durch die Häufung von Zuständigkeiten und Güter in den Händen einer neuzeitlich aus vielerlei Gruppierungen zusammengesetzten Funktionskruste sichert diese Spitze sich Sondervorteile. Als verzweigtes Sozialdach erinnert sie an frühere Verhältnisse, wiewohl die Medienwelt zur Frustrationsvorbeugung visuelle Gleichzugänglichkeit vorgaukelt.

[17] So oder so stehen Eliten in der Bringschuld, um allokativen  Kriterien zu entsprechen. Je weniger gemeinnützig sie wirken, obschon die Pluralisierung alle Bezugsrahmen aufzulösen scheint, umso empfindlicher reagieren sie auf Kritik, wenn diese in den Medien breit getreten wird.

[18] Ob die Piratenpartei das wird ändern können, ist mit Blick auf frühere Aufbrüche dieser Art zu bezweifeln; zudem ventiliert das Internet Meinungen, nicht Sachargumente.

[19] Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796), Werke in 2 Bde., Weimar/ Berlin: Aufbau 1980, Bd. 1, S. 54 ff., hier S. 61.

[20] Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.