Und bist du nicht willig…

eingetragen in: Europa 0

Das Individuum hat sich Gewalt

anzutun.

Max Horkheimer

Gewalt in Aktion bedroht die Unversehrtheit und damit die personale Autonomie. Sie wirkt impulsiv, ist im Gegensatz zur Aggressivität aber eine Wahlhandlung. Zu fragen bleibt also, wer sie zu welchem Zweck wie anwendet. Auch ihre mittelbaren Formen wie Infamie, Demütigung oder Indoktrination sind auszuloten, um von den vielen Funktionsweisen nicht zu reden, die jenem „dunklen Trieb der Dinge“ (Ranke) zuzurechnen sind, dessen historische Schablone die Aneignung der Anstrengungen anderer Leute ist. Eingebunden in Systeme und definiert durch Konflikte zwischen Organisation und Initiative lassen sich Schmerzkalküle dabei kaum mehr ausmachen. Zudem handelt es sich bei der Gewalt wie beim Geld oder der Angst um ein zentrales Medium der Beeinflussung sozialer Gegebenheiten, Beziehungen und Prozesse.

Gewaltsamkeit ist, besonders als Kollektivenergie, eine zwiespältige Begabung des Menschen. Ihre Vielförmigkeit verweist auf höchst unterschiedliche Rollen. Sie ist ein Unsicherheitsfaktor jeder Zustandsgestaltung – kann aber auch reformieren oder Schlimmeres verhüten. Zugleich steht sie Pate bei der Sicherung eines ganzen Arsenals von Plusgütern wie Prestige, Versorgung oder Fortpflanzung, möglichst ohne alle Gegenleistung.[1]

Ambivalenz

Mit Bajonetten lasse sich viel erreichen, sinnvoll arbeiten könne man mit ihnen allerdings ebenso wenig wie es auch unmöglich ist, sich auf ihnen auszuruhen. Im Sinne einer Bemerkung von Talleyrand konnte organisierte, also auf Zeit gestellte Gewalt erst Fuß fassen, als sich nach dem Verlassen der Von-der-Hand-in-den-Mund-Zeitalter der innergesellschaftliche Leistungsdruck erhöht hatte. Tauschverhältnisse, die an den Rändern der frühen Gemeinschaften entstanden, samt innovativer Denkstile und der Ersetzung bedarfsdeckender durch arbeitsteilige Produktionsweisen haben diesen Wandel angetrieben. Es waren keineswegs vornehmlich aggressive Taten, etwa Raublust oder Wutkoller, die das erreichen konnten, so aufdringlich alle Chroniken von ihnen durchwirkt sein mögen.

Für eine dauerhafte Überlebenssicherung und damit für den Übergang von der Hordenexistenz zur Siedlung war neben Intelligenz (Lösungskompetenz) die physische Kraft (Durchsetzungskompetenz) allerdings unentbehrlich. Destruktivität und Bewerkstelligung gingen eine jedenfalls im Rückblick zweckrationale, da produktive Verbindung ein, die sich wegen körperlicher (Aggressivität), emotionaler (Trieb), situativer (Stress etc.) beziehungsweise sozialer (Frustration) Auslöser gleichermaßen für Gewaltsamkeit und Gewalt allerdings selten detailliert aufschlüsseln lässt.

Insgesamt gesehen jedenfalls manifestiert sich das historische Überwältigungs-Kontinuum daher als Erfahrung (Prägung), Mythologie (Sinn) oder auch Identität (Selbstbehauptung), was die intime Vernetzung des gesamten Kulturgeschehens mit Zwang und Gewalt unterstreicht.

Einstmals, noch zu Zeiten jener „zyklopischen Epoche“ (Vico), war die Dosierung der Gewalt dabei vielleicht mit der Umsetzung allgemeiner Zwecke deckungsgleich. Seit der Ausfällung hierarchischer Muster diente sie indes vor allem der Rückversicherung von Sonderchancen. Die Sinn- und Funktionsstäbe, die sich nach und nach um einen politischen Erzwingungskern legten, der das Bestehen der Gemeinschaft garantieren sollte, versuchten allerdings immer, das eine mit dem anderen gleichzusetzen, wie Livius (Ab urbe condita II 32, 8 ff.) den Menenius Agrippa formulieren lässt: Der spätere römische Konsul rief mit einer Allegorie[46] auf den unterstellten Gemeinwohlmehrwert der römischen Oberschicht für die res publica das Stadtvolk zur Ordnung, das voller Protest über die herrschende Zustände auf den heiligen Berg gezogen war.

Rohform

Es mag Tabus der Normalität berühren, doch ausnahmslos jede Gesellschaft erzeugt mehr oder weniger große Überschüsse an Gewalt. Sie wiederum sind erfahrungsgemäß nur durch die Investition von Zwang beziehungsweise durch entsprechende Rituale und Regeln in den Griff zu bekommen, wie sich bei René Girard nachlesen lässt. Insofern stellen Politikmuster aller Art konstruktionslogisch nicht nur, aber eben auch Zwangsgebilde dar.[47] Dabei scheint es im Strom der Zeiten für die Betroffenen nicht gleichgültig, praktisch-politisch letztlich aber irrelevant gewesen zu sein, für wen genau diese Figuration unter welchen Vorzeichen von Vorteil war, die sich später im Staat kristallisiert und günstigenfalls ordnungskompatible Botmäßigkeit generiert. So oder so tritt sie realiter als Überbau einer diskriminierenden Verteilung in Erscheinung, da selbst die Chancengleichheit als modernes Projekt immer ein schönes, aber fernes Ziel bleiben wird.

Dennoch waltet – wie in einer Biographie – auch in der Staa-tengeschichte eine Art von infantiler Amnesie. Die Herkunft des Politischen aus kriegerischer, revolutionärer oder terroristischer Gewalt pflegt verdrängt zu werden, was sich als Selbstheilungskraft von Kollektiven verbuchen lässt. Nach den Turbulenzen kann man sich guten Gewissens auf das Neuetablierte wie auf etwas Naturgegebenes berufen. Widrigenfalls per Druck, vor allem gegen Kräfte, die – ihrerseits womöglich unverfroren – einen neuen Aufbruch anregen. Wie das auch ausgehen mag, der Staat kann immer nur einen Teil der Durchsetzungsanmaßungen bannen. Neben dem Volumen der alltäglichen Aggressivität überlebt eine Unmenge privater Drohchancen, von denen in der Neuzeit nicht zuletzt der Schwung der Marktwirtschaft abzuhängen scheint.

Gewalt in Aktion vermittelt allerdings den Eindruck, als ob Kreatürlichkeit in der Normalität ihren Platz behält. Je nachdem, ob die Ordnung bedroht zu sein scheint oder für hinreichend stabil gehalten wird, richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit hoffnungsvoll oder irritiert auf ihre Leistung als Schlichter. Derartige Wechselfälle verweisen auf die politische Rahmung dieses Phänomens, dessen Verarbeitung bewusst oder unbewusst die Widersprüchlichkeit der Gesellschaftsgeschichte spiegelt.

Insofern demonstriert die Chronik staatlichen Handelns, dass die Instanz, die die zivilisatorische Standards erhalten soll, nicht selten die Schwelle zu krimineller Gewalt erreicht – oder sie bei fehlender Kontrolle auch überschreitet. Dafür müssen dann Gesetze etwa im Sinne eines ausgreifenden Schutzbegriffes gestreckt werden. Nicht ungewöhnlich, denn an den Rändern des Geltungsbereiches von Normgebilden herrscht immer eine Art von latentem Notstand. Doch auch als Folge von Vernachlässigungen bleibt aggressive Kommunikation endemisch.[48] Was folgt daraus? Trotz des Strebens nach „Äquilibrisierung“ (Piaget) verlangen Disziplinlosigkeiten im Sozialverkehr sowie der Presscharakter – nach Émile Durkheim gleichermaßen als coercition wie contrainte – sozialer Einrichtungen nach Pragmatik im öffentlichen wie im privaten Leben. Ein aufgeklärtes und daher ziviles Miteinander muss hier wie dort tagtäglich dem Aversen abgerungen werden.

Dabei galten Zwang und Gewalt lange als das ganz Andere der Neuzeit. Ihre An- oder Abwesenheit schien geradezu ein Unterscheidungskriterium zwischen Vormoderne und Moderne zu bieten. Offene Gewalt wirkte wie die Ausnahme und sollte als Aberration auf Distanz gehalten werden; oder sie wurde als Rücksturz verbucht und entsprechend zum peinlichen Sonderfall gestempelt, der mit der Gegenwart wesensmäßig eigentlich nichts (mehr) zu tun habe. Die Gegenüberstellung von Zivilität und Barbarei hat allerdings a) traditionelle Formen der Gewalt in der Moderne (Strukturverhältnisgewalt, Gewalt an der Peripherie etc.) ebenso ignoriert wie b) die Rolle von Zwang bei der Routine sozialer und kultureller Muster respektive c) spezifische Neigungen zu Gewaltexzessen, die der Massengesellschaft augenscheinlich anhaften. So sah sich eine Plethora von Definitionen bemüht; sie ging einher mit der spätestens durch den Holocaust eigentlich widerlegten Prämisse, wonach das ‚Projekt Moderne’ mit derartigen Ausbrüchen an Wildheit prinzipiell unvereinbar sein müsste.

Solche Inkohärenzen werfen Fragen auf. Sind es strukturelle Prozesse, die das Gewalthandeln stimulieren? Dann wären kulturelle oder religiöse Deutungsmuster der Beteiligten eher irrelevant. Das kann jedoch nicht so sein, denn deren Handeln lässt sich ohne situative beziehungsweise mentale Rückbezüge überhaupt nicht verstehen. Dennoch kommt der blicköffnende Kulturbegriff erst ins Spiel, wenn es um Ereignisse geht, die (man denke an Amokläufe) wie blinde oder scheinbar selbstläufige Gewalt wirken – und somit jenseits der Alltäglichkeit stehen. Als Erklärung zweiter Ordnung kann der Kulturbegriff allerdings selbst zu einer Größe geraten, die – wie in anderen Ansätzen etwa soziostrukturelle Einflussfaktoren – das Gewalthandeln determiniert: Man denke an den Treuekomplex als Movens von Kampfkraft, wie Martin van Creveld gezeigt hat, oder an die zentrale Rolle der Scham als Verhaltensdiktat, die Max Weber in seiner Religionssoziologie herausarbeiten konnte. Auch der inflationäre Verweis auf den Respekt gehört in diesen Rahmen. Schon die Wahrnehmung einer Handlung als ‚gewaltsam’ ist also das Produkt kultureller Prägungen. Normalität und Abweichung spiegeln insofern soziale Etikettierungen,[49] die nie als gegeben vorauszusetzen beziehungsweise zu begreifen sind, sondern auf spezifische Muster der Interaktion verweisen.

Begriffe

Eine wenigstens semantische Abgrenzung von Macht und Gewalt ergibt sich daraus, dass in einer Machtbeziehung A das Nachgeben von B droharm zu sichern vermag. In einer Gewaltbeziehung hingegen muss B genötigt werden, um die Erwartungen von A zu erfüllen. Wobei sich die Frage allerdings auch für der ersten Fall stellt, ob B einlenkt, weil er weiß, dass Gewalt als Reservefunktion durch A mobilisiert werden kann? Oder ob das Gehorchen von B gar auf viktimologische Vorerfahrungen verweist, wie Stanley Milgram betont hat? Abgrenzungen wie diese bleiben jedoch unbefriedigend, zudem äquivok, weil sich bewertende und funktionale Aussagen überlappen, selbst wenn man sie nicht über Gebühr strapazieren will.

Sobald „Seinsverortungen“ (Karl Mannheim) ins Spiel kommen, sind begriffliche Dissonanzen ohnehin nicht zu vermeiden. Daher greifen Sichtweisen auch zu kurz, die Brutalität umstandslos als Folge von Willenskonflikten definieren. Das blendet nicht nur den womöglich offensiv-emotionalen Untergrund (Wut/ Überwältigungslust/ Nervenkitzel) aus; vor allem sieht sich Gewalt als Latenz beziehungsweise Gedächtnissystem unterschlagen, das mithilfe von Institutionen – also per kollektiver Erinnerung – die Normalität üblicherweise trägt. Dieser Komplex moderiert systemgeschichtlich ja auch das Aufkommen an Fügsamkeit, weshalb bei Spannungen zwischen A und B nicht notwendigerweise Blut fließen muss, obschon nicht nur Macht, sondern auch Gewalt im Spiel sein kann.

Um normalsoziales Handeln als gewaltsam einstufen zu können, ist mithin kultureller Spürsinn gefragt. Es geht ja nicht nur um sichtbare Schädigungen, sondern womöglich um Effekte, die unter der Schwelle der Beobachtbarkeit liegen.[50] Nosologische, gegebenenfalls aber auch formbildende Gewalt ist hermeneutisch dann nur über die symbolische Aufladung ihrer Effekte zu erfassen: Gewalt und Schmerz korrespondieren zwar, entsprechen sich jedoch nicht. Zudem kann physische Gewalt in dieser Optik verortet werden, ohne sie auf präkulturelles Walten festlegen zu müssen. Sieht sich Gewalt indes als anthropoide Universalsprache verstanden, werden nicht nur strukturelle oder soziosomatische Hintergründe ihres Wirkens vernachlässigt; zudem fehlt analytische Distanz, obschon doch die Erfahrung der Gewalt wie Erfahrung generell das Ergebnis von Verständnisprozessen ist, keineswegs aber unmittelbarer Ausdruck einer Kommunikation von Körpern im Konflikt.

Insofern verrät Gewaltsamkeit selten ein craving, ist vielmehr eine Handlungsoption unter anderen. Kämpferisches Verhalten gar lässt sich schwerlich wie bei William McDougall[51] als Ausdruck eines Instinktes ohne spezifisches Ziel begreifen, wobei die Behinderung der jeweiligen Zwecksicherung als Schlüssel gelten soll, der die Tür zur Gewalt öffnet. Im Begriff der ‚Zwecksicherung’ klingt ja gerade an, dass es sich immer um eine soziale Erscheinung mit wenigstens zwei Polen handeln muss. Wer wendet Gewalt gegen wen oder was an? Und wie und warum?

   Die Klärung nicht zuletzt dieser Zusammenhänge ist schwierig, was sich in einem hochelaborierten, dennoch eher vagen Erkenntnisstand niederschlägt. Kaum zwei Forscher pflegen hier dieselben Konnotationen. Das belebt zwar den definitorischen Wettbewerb, fördert jedoch nicht unbedingt die Sachklärung. Sieht man ab von juristischen Setzungen frei nach ‚Gewalt ist, wenn‘ oder neurowissenschaftlichen Hinweisen auf die Prognostizierbarkeit asozialen, mithin aggressiven Verhaltens als Folge des Zusammenspiels von schlechter Umgebung mit gestörter Hirnchemie, dann zeichnet sich eine Übereinstimmung, was, wann und wieso als Gewalt verstanden werden könnte, nirgends ab.

Widersprüche

Die einschlägigen Definitionen sind entweder zu allgemein, so dass ihnen der Gegenstand abhanden kommt; oder sie verharren an der Oberfläche beziehungsweise schließen aus, was jeweils als unaussprechbar gilt. Gewalt tritt als solche überdies nicht immer greifbar in Erscheinung. Ist sie durch die Beobachtung von Verletzungen erfassbar, gar verstehbar? Eher nicht. Es bleiben Kausalitäten und Zwecke zu klären. Wirkt de facto keine Gewalt, wenn Ruhe herrscht? Und können Handgreiflichkeiten nicht Folge von Druck oder Drohung sein, mithin das Ergebnis interaktiver respektive struktureller Verwerfungen, die ihrerseits in actu gar nicht (mehr) sichtbar sind? Sie stellen insofern keineswegs Effekte ohne Ursache dar, sondern lassen sich – wie im Fall von Aufruhr – als Reaktionen auf vorherige Gewalterfahrungen verstehen. Und daher womöglich als Not- und Gegenwehr, wollen sie auf den ersten Blick auch noch so spontan oder blindwütig wirken und daher unangebracht.

Die Deutungsdivergenzen über Auslöser und Folgen von Aggressivität sowie Zwang sind kaum aufzuheben. Über wichtige Sozialprobleme kann viel gesagt werden, ohne dass ihre Mehrschichtigkeit ausgelotet wird. Das beleuchtet nicht zuletzt die auf der Zeitachse irrlichternde Frage, was jeweils zeitgemäß als Terrorismus zu gelten hat – und was als Freiheitskampf. Oder aus anderer Perspektive: Was ist Staatsterror, was Ordnungsstiftung? Als Beispiel sei der ewige Kurdenkonflikt in der südostanatolischen Provinz Hakkari angeführt. Durch Sprachregelungen sind situationsgerechtere Bewertungen im Einzelfall überdies oft versperrt. Nicht ungern sieht sich ja ausgeklammert, was die Kontrahenten antreibt, weshalb sie Unterstützung finden beziehungsweise warum welche Kodifizierungen vor Ort ins Leere zielen. Kaum verwunderlich, dass gefolgert wurde, es werde immer parteilich, also schief geurteilt, wenn es um diesen heiklen Begriffshof geht.

Fakten unterliegen sprachlichen Interferenzen, in den Humanwissenschaften stehen Begriffe außerdem unter ideologischem Druck. Kommt man der Gewaltfrage daher bei, je bewusster Correctness-Grenzen ignoriert werden? Oder belegt die Nichtthematisierung von Gewalt ihre Abwesenheit? Jeder Rückblick wirkte dann besonnt.[52] Solange es gelingt, die jeweiligen Verhältnisse zu legitimieren, gibt es nach solcher Lesart keine Violenz. Regelverletzungen werden entsprechend allein in Tätlichkeiten entdeckt, die ohnehin nicht zu beseitigen, höchstens einzuhegen sind. Gewalt ‚von Amts wegen’ bleibt so die Ausnahme, selbst wenn durchweg alle Gesellschaftsgebäude laut Abraham Kardiner ursprünglich – um nur davon zu reden – durch die Investition von Gewaltsamkeit errichtet sein mögen.

Doch zeugt eine tranquillitas ordinis mit Augustin auch von ordinata concordia? Oder haben wir es mit jenem „frightened peace“ zu tun, den Shakespeare in seinen Königsdramen immer wieder durchspielt? Handelt es sich gar um ein Sichabfinden mit Sachlagen, zu denen es keine Alternative zu geben scheint, nicht einmal in Gedanken? Daraus ließe sich schließen, dass in solchen Zeiten jedenfalls neben der nicht abstellbaren Individualgewalt kein Zwangsüberhang besteht, sondern eine passable Normalität.[53] Das ist wenig wahrscheinlich, realiter hat sich die vis inertiae der Zustände immer auf ungleichen Tausch und gedrückte Affirmation gereimt. Sie war den Epochen jedoch inokuliert, wie Pierre Bourdieu es ausgedrückt hat, und verfestigte sich mit der Sozialisationsroutine. Es ist also verkehrt, das zumeist stumme Leiden der Generationen an der Gewalt der Umstände als Billigung zu verbuchen, wie eine eher eindimensionale Geschichtsschreibung es auszudeuten pflegt.

Strukturen

Geht es gewaltfrei zu, weil sich im Alltag kein Änderungswunsch äußert? Dann sind auch Kriege normal, solange keine Friedenskonzepte vorgelegen haben. Friedenspläne sowie Vorstellungen größerer Fairness im gesellschaftlichen Miteinander zählen indes zum intellektuellen Beipack zumindest der abendländischen Zivilisation. Über Unfrieden oder Ungerechtigkeit (Sozialverhältnisgewalt) klagte man zu allen Zeiten. Schon seit Hesiod können die Epochen überdies auf Merkposten zurückgreifen, wie die Sozialwelt erträglicher zu gestalten wäre. Sklaverei und Ausbeutung ebenso wie Streitlust oder Sündenbockphantasmen stehen als schlechte Gewohnheiten mehr oder weniger deutlich immer am Pranger. Sie sind Ausdruck von Knappheit oder Anmaßung, verdanken sich insofern keineswegs unbeeinflussbaren Prägemustern. Und weil sie sozial oder kulturell extremen Entscheidungslagen entspringen, nicht aber natürlichen Vorgaben folgen, stellen Kriege tatsächlich eher seltene Ereignisse dar, jedenfalls bezogen auf das große Ganze der historischen Alltäglichkeit.

Die Bereitschaft zum Gehorsam ist genealogisch zu entziffern als Selbstbehauptung, die sich per erlernter Nachahmung erhält. Durch das Anpassen an fremde Willensbekundungen entgeht man Gefährdungen aller Art und stützt zugleich die das Etablierte tragende Konformität.[54] Um diese weiter zu festigen, appellieren mehr oder weniger direkt alle obrigkeitlichen Verlautbarungen an unsere Fügsamkeit. Entsprechende Rechtsakte sind eben keineswegs „Gesänge, die im Leeren verhallen“ (Luhmann). Sie sichern ihr Wirken ab, indem sie sich mit dem Gemeinwohl gleichsetzen, was ihre Befugnis garantiert, gegebenenfalls Zwang einsetzen zu dürfen.

Es heißt indes, Albtraum und Traum zu verwechseln, wenn ‚Ordnung’ definitorisch mit Frieden gleichgesetzt und dieses Gespann – da amtlich – als gewaltlos ausgegeben wird. Sieht man ab von Alltagsaggressivitäten beziehungsweise vom Zustandsschutz, regt sich Gewalt nach solcher Auffassung eigentlich nur dann, wenn a) massive Handgreiflichkeiten beziehungsweise b) formal als gewaltsam definierte Aktivitäten wie Kriminalität oder Vandalismus vorkommen. Lässt man absichtslose ‚Gewalt’ beiseite, etwa Verkehrsunfälle, denen im vergangenen Jahrhundert mehr Menschen zum Opfer fielen als den Weltkriegen zusammengerechnet, dann schiene jenseits militärischer Großereignisse das Gewaltdebakel irgendwie eingehegt zu sein.

Ordnung

Der Orientierungsrahmen verändert sich allerdings ständig. Zuweilen verkehrt er sich in sein direktes Gegenteil, was nach 1989 ganze Weltregionen erfahren mussten. Überdies schwankt der öffentliche Ruhebedarf erheblich, wie die vielen Hysteriewellen zeigen, die periodisch die Risikogesellschaft durchlaufen, obschon doch Schutz zu den institutionellen und Vertrauen zu den wirtschaftlichen Grundvoraussetzungen von Modernität zählen. Das fördert nicht gerade die Gelassenheit der Bürger, um vom „march of folly“ (Barbara Tuchmann),  Politik genannt, einmal ganz abzusehen.

Damit stellt sich die Gewaltfrage nicht neu, aber anders. Sie kann etwa an Johan Galtung anknüpfen, der das Wirken von Zwang (Benachteiligung etc.) mitten in dessen Abwesenheit (Ruhe) zur Debatte gestellt hat. Obschon diese Sichtweise mit Thesen von James Buchanan übereinstimmt, wonach Marktversagen dort herrscht, wo mögliche Tauschgewinne nicht realisiert werden, wurde sie umgehend als ideologisch eingestuft, weil sich a) mit ihr nicht nur rückblickend die Sozial- als Gewaltgeschichte verdächtigen lässt, sondern b) gesellschaftspolitische Änderungsansprüche zu konstruieren wären, gerade auch in der mobilen Hypermoderne. Der Ansatz von Galtung ist wegen begrifflicher Unschärfen zu kritisieren; jenseits taxonomischer Zusammenhänge, die er entfaltet, wird nicht immer klar, was die Gewalt eigentlich antreibt, was also jeweils Ursache ist und was Wirkung. Stellt Gewalt eine eigenständige Kategorie, gar Größe dar oder funktioniert sie als Ausdruck anderer Prozesse? Galtung jedenfalls hielt ihre personalen, direkten oder strukturellen Einflussweisen für multifunktional. Sie könnten gleichzeitig, nach- oder nebeneinander als Mittel und Zweck auftreten beziehungsweise als Repräsentanz der geltenden Ordnungsmuster wirken und daher unauffällig bleiben.

Die Annahme, dass Klarheit der Beweisführung für deren Stringenz spricht, mag für logische Ausführungen zutreffen, ist bei historischen Fragestellungen jedoch wenig hilfreich. Die Gemengelage der Anlässe für und Effekte von Gewalt macht ihre Vermessung ebenso schwierig wie ihre Definition. Das von Galtung erweiterte Rollenfeld wirkte daher höchst anregend. Lassen sich doch latente Konfliktlagen ausloten, die ansonsten gar nicht als gewaltstimuliert wahrzunehmen wären, so dass vielerlei Eruptionen unerklärlich blieben. Solche Tiefenoptik, die erst mit Michel Foucault richtig Karriere machen sollte, wurde anfangs allerdings abgekanzelt, weil sie den Friedensbegriff tangiert. Je weiter nämlich das Gewaltverständnis gefasst wird, umso eher herrscht Unfrieden, selbst dort, wo nach allgemeiner Lesart formal Recht und Gesetz gelten.

Schon immer wird über die ideale Beschaffenheit einer Lage nachgedacht, der Gewaltfreiheit zu attestieren wäre. Es fehlt eine klar umrissene Folie, mit der sich dieser Zustand beziehungsweise sein Fehlen beschreiben, gar kodieren ließe. Zwar rückt mit der Philosophie der Aufklärung ein neues Referenzobjekt ins Zentrum, das es endlich zu erlauben schien, den Friedensbegriff genauer zu fassen. Eigentliches Studien-, weil Sorgenobjekt, so sah sich unterstrichen, sei der Mensch und sein Wohlergehen. Gesetzt den Fall, das Volumen an Glück wäre auszuweiten, ließe sich dann nicht auch die „erbarmungslose Härte älterer Gesellschaftszustände“ (Schmoller) mildern? Das könnte einer Limitierung der Gewalt den Weg bereiten, selbst wenn sich die der Gattung mit auf den Weg gegebene Aggressivitätskompetenz nicht einschränken ließe, wie Skeptiker behaupten. Vielleicht aber wäre selbst das möglich? Denn ein Leben-und-leben-lassen aufgrund besserer Versorgung und Anerkennung begünstigt stabilere, da nicht mehr durch lichte Not und Demütigungen gepeinigte Verhältnisse. Zugleich müssten allerdings die allgemeinen Bildungsgüter möglichst chancengleich zur Verfügung gestellt werden[55], weil – wenn etwas – die breite und stetige Förderung der Einsichtsfähigkeit eine der Grundvoraussetzungen der Selbsterziehung des Menschengeschlechtes ist.

Politik

Gewalt ist nicht nur ein Politikum, sie ist immer auch ein Ideo-logikum. Es wäre daher ein abgehobener Standort erforderlich, um Befangenheiten in raumzeitlichen Bezügen nicht nur einkalkulieren, sondern die – auch die eigene – Beobachtung beobachten zu können. Selbst dann wirkten Bezeichnungsdilemmata fort. Vieldeutigkeit und Ambivalenzen von Gewalt sind ersichtlich nicht einzuschränken,[56] es sei denn, man hält sich an Begriffe ohne Vorstellung[57]. Das aber kann das Fehlverhalten gerade auf Seiten der Ordnungshüter fördern, etwa indem man sich in einen globalen Feldzug gegen den Wut-Islamismus verwickelt wähnt, was Sicherheitshysterien schürt, obschon es wenigstens in den westlichen Demokratien doch um Polizeiarbeit, also um die kriminal-technisch versierte Abwehr religiös-politisch irregeleiteter Fanatiker geht.

Noch unübersichtlicher wird es, wenn die Gewaltunterfütterung von legaler Macht betrachtet wird. Sie speist sich aus autoritativen (Koordinierung), allokativen (Kontrolle) und imaginativen (Beeinflussung) Ressourcen, die in Form normativer oder institutioneller Regelwerke bei aller Handlungsoffenheit doch wie strukturelle Verhärtungen wirken können. Hinzu kommen vielfältige und sich widersprechende Wirkweisen der Gewalt unterhalb beziehungsweise außerhalb der politischen Ebene mit ihrer neuzeitlich immerhin transparenten, das heißt nicht nur möglichst unverborgenen, sondern responsiven Zuständigkeit für das öffentliche Wohl. Zu denken etwa ist an Verwerfungen durch die Produktivkräfte als Vehikel gleichermaßen der Bedürfnisbefriedigung und der Bereicherung. Sie sind zugleich der Motor für tief greifende Umwälzungen, mit Energie versorgt durch Spekulationen auf dem Weg in schumpetersche Möglichkeitshorizonte. Unabhängig von sittlichen oder behördlichen Eingrenzungsversuchen mündet das Mit- und Gegeneinander gesellschaftlicher Interessen nolens volens in Anordnungs-Cluster, um Regellosigkeit abzuwehren, die so oder so zum Risikogepäck aller Vergesellung zählt.

Nach Maßgabe der jeweiligen System-Subsystem-Sets beruht entsprechend a) politische Herrschaft auf der Anwendung oder Androhung von Zwang, b) ökonomische Herrschaft auf der Verfügung über finanzielle sowie materielle Güter beziehungsweise auf der Kontrolle der Arbeitsmarktchancen und c) kulturelle Herrschaft auf der Lenkung von Identifikation, Symbolen oder Werten. Die Dynamik sozialer Beziehungsmuster und Organisationsvorgaben bestimmt dabei die jeweilige Stellung dieser Einflussfelder zueinander.

Gewalt bleibt folglich Teil der gesellschaftlichen Strickmuster noch dann, wenn formal Macht agiert, in welcher politischen Fasson auch immer. Seien es disziplin- oder kontrollgesellschaftlich strukturierte beziehungsweise eher konsensuelle Entwürfe des Sozialen: Sie können schwerlich bestehen ohne die Möglichkeiten, Gewalt aufzurufen.[58] Als Regelungsreserve mag sie solange unauffällig sein, bis – aus welchen Gründen immer –  die steuernde Funktionalität stottert oder die Bereitschaft zum Gehorsam schwindet. Und sie ist zur Stelle, falls die im Gesellschaftsvertrag qua Körperlichkeit immer präsente Gewaltfähigkeit unkontrolliert zu werden droht. Zaudert sie in solchen Fällen, laufen die Zustände leicht aus dem Ruder.

Das passiert nicht zuletzt dann, wenn die in die Sozialnetze verwebten Regulatoren versagen und Widerspruch zu Aufruhr mutiert, etwa weil sich die im alltäglichen Affirmationstraining gelernte „Enteignung der moralischen Empörung“ (Barrington Moore) revidiert sieht. Dann wird erfahrbar, worauf Ordnung als Garant von Sicherheit beruht, die schon den Vordenkern der Industrialisierung angesichts all der fabrikweltlichen Umbrüche so am Herzen lag. Die Wiederherstellung der Ruhe in den tumultuösen Juni-Ereignissen 1848 in Paris durch den General Cavaignac etwa bezeugt den geradezu hysterischen Bedarf an Berechenbarkeit[59], dem die arbeitsteilige Marktwelt ab ovo unterlag. Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurden aufgehoben, und endlich, nach vier Tagen heftiger Straßenkämpfe – Octave Aubry spricht von einem der brutalsten Ereignisse der französischen Geschichte – waren die als pure Chaotisierungsmacht wahrgenommenen Ansprüche auf politische Mitsprache der Unterbemittelten gebrochen.

Der Hass der Verlierer auf die Bessergestellten und deren jederzeit entflammbare Angst vor dem Volk, dessen Unberechenbarkeit Gustave Le Bon bald als Grundgefahr für die Moderne ausschildern sollte, fraßen sich fest und verschärften hinfort den politischen Ton im Land.[60]

List der Gewalt

Die geradezu staatsklug wirkende List der Gewalt besteht in ihrer Verfriedlichungsleistung, indem sie Gehorsam zur Tugend stilisiert. Dies Vermögen entspringt nicht zuletzt ihrer Fähigkeit, sich aus der Wahrnehmung auszublenden. Das macht nicht nur das Orchestrieren der Begriffe wie Herrengewalt (potestas dominativa), Herrschaft (dominium), Übermacht (plenitudo potestas), Zwang (potestas coactiva), Gewalt (vis), Gewalt gegen den Willen (violentia) oder Befugnis (potestas ordinaria) schwierig; es vernebelt auch deren gesellschaftspolitische Verortung. Komplexer noch erschiene eine Definition der Definitionen zu sein, die so vielschichtig ausfallen müsste wie eine Mandelbrot-Menge. Wo, wann und warum betrifft welche dieser Bezeichnungen welches Umfeld beziehungsweise passt es auf individuelle, politische oder strukturelle Zwangsverhältnisse? Das Zuordnungsdilemma hat mit besagten Überschneidungen zu tun, überdies wissen wir nicht erst seit Adam Ferguson, dass die Spezies Mensch „zur Opposition neigt“, was alle Verhältnisse mitsamt ihren Leitbegriffen durcheinander zu bringen pflegt. Entsprechend handelt es sich bei dem ordnungspolitisch relevanten Gewaltaufkommen im positiven Fall um Kreativität, élan vital oder Betätigungslust. Zuweilen womöglich gar um Änderungsenergie und damit um jene Geburtshilfe des Neuen, von der Karl Marx geträumt hat. Pure Kollektivgewalt, vis impulsiva, auf welcher öffentlichen Bühne auch immer, wird allenthalben eher distanziert betrachtet. Politiktheoretisch geht es ohnehin vor allem um die dosierten, impliziten oder aber kalkulierten Varianten dieser Größe, mögen sie gleich wie ein Impromptu wirken.

Diese Verwandtschaften im Einzelnen zu verfolgen führt ins Beispielhafte. Unter normalen Umständen wird jedenfalls auf der politischen Bühne zur Gewaltsamkeit erst gegriffen, wenn andere Mittel blockiert sind. Vor allem wegen der Vorliebe der Medien für Ausschreitungen wirkt das Gewaltvolumen oft übertrieben hoch. Und so in allem. Verzerrungen sind in diesem Feld die Regel, man denke nur an die Debatten über die Gewalt an den Schulen: In ihrem Schlepptau bekundeten fast die Hälfte der Heranwachsenden (2003) erhebliche Ängste, weswegen man handfester Freunde bedürfe. Was immerhin demonstrieren kann, dass Stärke und Schutz weiterhin ebenso interagieren wie Kraft und Gewalt.

Obendrein können Konflikte durch das forsche Auftreten der Autoritäten verstärkt werden. Proteste signalisieren jedoch nicht per se antisoziales Handeln: Es sei denn, ziviler Ungehorsam ignoriert – auch unter wirklich demokratischen Bedingungen – deren Basisregel: Wonach ein Argument, das sich im offenen Meinungsstreit oder vor den zuständigen Gerichten nicht als rechtfest respektive mehrheitstauglich erwiesen hat, nicht von wutbürgerlichen Minoritäten auf der Straße durchzudrücken ist. Freilich kommt es mit Blick auf die Fragilität aller Ordnung auch dann auf die Beantwortung der Frage an, wodurch die Routine aufgeschreckt wurde. Und was sich im Vorfeld solcher Ereignisse kalmierend hätte tun lassen.

Sache des Willens

Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit, wenn schon nicht Gewalt, um an dieser Abgrenzung von Max Weber festzuhalten, lassen sich im Gegensatz zu Macht oder Autorität ad hoc beobachten. Das hilft indes bei der Begriffsbestimmung, womit man es jeweils zu tun  hat, kaum weiter, da Interpretationen politisch und medial festgezurrt und somit von Vorurteilen und Selbstzensur umstellt sind. Das Sichtbare kann zudem Ausdruck von oder die Reaktion auf Misshelligkeiten sein, die verborgen sind, weil sie in den Gegebenheiten stecken. Derartige Verursachungen bleiben schwer ergründbar. Das ist kaum zu ändern aber fatal, denn wie auch sonst im politischen Alltag ist das unbeobachtete Geschehen zumeist wichtiger als die Inszenierungen auf den öffentlichen Bühnen.

Nicht zuletzt diese diffuse Kausalität beeinträchtigt definitorische Festlegungen ebenso wie deren empirische Überprüfbarkeit. Sieht man ab von Umfragen zur Gewaltbereitschaft, deren Ergebnisse im Wind der öffentlichen Aufregung schwanken, wirken auch sozialpsychologische Operationalisierungen willkürlich. Eine Ausnahme bilden experimentelle Laboruntersuchungen (S. Asch; S. Milgram, M. Sherif, P. G. Zimbardo etc.); ihre Präzision verdankt sich indessen der Versuchsaufbaukontrolle. Über Formen, Anlässe und Heftigkeit der Gewalt ist eher wenig zu erfahren; viel hingegen darüber, dass wir unter gewissen Bedingungen zur Gewalttätigkeit neigen. Lässt sich Violenz deswegen kaum abstrakt analysieren? Das trifft zu, wenn Erklärungen nicht nach Gründen fragen, die im Alltäglichen als Quelle des Unmuts stecken können. Oder wenn sie es vermeiden, auf Tendenzen zu achten, die der Stabilität den Rückhalt entziehen. Der Verzicht auf Verallgemeinerungen führt seinerseits allerdings leicht in die Kasuistik und von dort in Vorurteile, wenn nur noch am Boden gegründelt werden kann.

Die Causa, die von den Theorien eingekreist werden soll, verformt sich ununterbrochen. Das Gewaltverständnis (Leitwert: Ordnung) ebenso übrigens wie das Kriegsbild (Regelwert: Symmetrie) vermögen kaum zu folgen. Halten Erklärungen aber an Kategorischem fest, treten Realität und Beobachtung auseinander, ohne dass das Tatsächliche die Analyse zur Ordnung rufen kann. Folglich heißt es, sich in Generalklauseln zu flüchten oder das Thema zu tabuieren. Die Phänomene im Gewaltfeld pflegen solchermaßen mit deren Ursachen beziehungsweise Zwecken gleichgesetzt, sprich verwechselt zu werden. Wesen und Erscheinung aber fallen auch dann nur scheinbar zusammen, wenn Einschätzungen das Argument ersetzen.



[45] In der Langzeitoptik gleicht die Masse Mensch als misera contribuens plebs jenem wundersamen Eber Sæhrímnir. Er wird jeden Abend in Walhall geschlachtet, um die hohen Herrschaften zu nähren; am nächsten Morgen wühlt er wieder im Schmutz, um sich für neue Feste zu mästen.

[46] Zur Beruhigung der secessio plebis reichte das Reden in Gleichnissen schon 494 vor Chr. nicht aus, den Streikenden mussten vielmehr zwei Volkstribune zugestanden werden, ehe sie einlenkten.

[47]  Dazu generell D. C. North u. a.: Violence and social orders, Cambridge u. a.: Cambridge UP 2009.

[48] Die Unterscheidung von Gewalt gegen Sachen respektive Personen ist rechtserheblich, begrifflich aber nachrangig, da auch ‚gegen Sachen‘ gerichtete Gewalt etwa als Vandalismus die Befindlichkeit oder Versorgung der Sacheigner erheblich beeinträchtigen kann.

[49]  Sollen Akteure wie Opfer nicht eine passive Rolle im jeweiligen Drama zugewiesen bekommen, lassen sich Gewaltsamkeiten nicht umstandslos auf soziale, kulturelle etc. Zuschreibungen zurückführen. Es ist immer mehr als das im Spiel, tatsächlich variieren Gewaltformen ja auch innerhalb vergleichbarer Kontexte. Als alleiniger Ausdruck irgendwelcher Motive können multiple Befunde von und Kausalitäten für Gewalt also schwerlich erfasst, noch weniger ausgedeutet werden.

[50] Die Analyse kultureller Sinnmuster zeigt, dass selbst Phänomene, die gewaltfrei wirken, „Kultivierungen von Gewalt“ (Popitz) verraten können.

[51] Outline of Psychology, London:Methuen 1923, S. 140.

[52] Erschütterte Studentinnen haben in Shanghai Professor Yang Shiquan als „konterrevolutionär“ denunziert (Süddeutsche Zeitung vom 6./ 7. 12. 2008, S. 11), weil er in einer Vorlesung angezweifelt hatte, dass die 5000jährige Geschichte Chinas durchgängig glorreich verlaufen sei: Die Polizei ermittelte und die Parteizelle der Ostchinesischen Universität für Politik und Recht hat eine Akte angelegt, sein Internet-Blog wurde sicherheitshalber von der Zensurbehörde verboten.

[53] Da man etwa für das Mittelalter das Fehlen gleicher Freiheitsrechte nicht beklagen kann, weil nicht einmal der Begriff derselben vorlag, an den zu appellieren war, wirkte die Ruhe der schweren Hand mangels Widerspruch wie akzeptiert. Das trifft zu, auch dann, wenn sie für die große Masse mitnichten auf Schutz und Gegenseitigkeit beruhte, wie Otto Brunner schwärmte.

[54] Politikgeschichtlich gelten öffentliche Zustände, die auf dem Ineinander von Unterwerfung und Anpassung, nicht aber auf freier Zustimmung fußen, erst spät als unvernünftig – und daher selbst als gewaltsam. Was lebensweltlich allerdings wenig daran änderte, dass bezogen auf die fernen Ebenen der Entscheidungen, auf denen der gesellschaftliche Zwang (Gesetze, Steuern, Dienste etc.) verwaltet wird, auch unter demokratischen Bedingungen die vielfältigen Erwartungen an das Verhalten der Individuen sich als letztlich unbeeinflussbarer Output eines ‚fremden Willens’ materialisieren.

[55] Auf solche Neuarrangements beriefen sich noch alle Fortschrittsutopien. Der modus vivendi war an Kriterien der Erträglichkeit zu orientieren, und sei es gleich gegen den Willen offener oder heimlicher Bewahrer des Hergebrachten. Die Wirtschaft müsse sich der Lenkung fügen (Politik > Ökonomie), der Gemeinwohlgedanke triumphieren (Du > Ich), die Persönlichkeit gestärkt werden (Ich > Es) beziehungsweise Sein mehr bedeuten als Haben (Spiel > Arbeit). Ansonsten habe man es weiterhin mit Zwangseffekten zu tun, nicht aber mit einer einübbaren Selbst- statt Fremdbeherrschung, also mit Autonomie im Sinne postkonventioneller Denkmuster. Im Praxistest erwiesen sich derartige Programme allerdings als Dystopien, sollte das Glück doch notfalls erzwungen werden, da eine Steuerbarkeit der Affären nach humanlogischen Maßstäben fehlschlug.

[56] Zum Bedeutungswandel von ‚Gewalt‘ vgl. Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Tl. 65/ 1. Section, Leipzig: Brockhaus 1857, S. 304 ff.; ‚Macht, Gewalt‘, in: Otto Brunner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd 3, Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 817 ff.; ‚Gewalt‘, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel/ Stuttgart: Schwabe 1974, S. 561 ff.

[57] Dazu Joseba Zulaika: Terrorism – The self-fulfilling prophecy, Chicago/ London: Chicago UP 2009.

[58] Nach 1348 löste die für England erste Welle der Pest einen akuten Mangel an Arbeitskräften aus. Das Parlament erließ daraufhin Lohn- und Zwangsgesetze. So sah sich der Bruch eines ‚Arbeitsvertrages’, den alle Leistungsfähigen unter sechzig Jahren eingehen mussten, mit Gefängnis bedroht. Wer sich wiederholt verweigerte, wurde coram publico auf der Stirn mit einem F für Falsity gebrandmarkt. In ihrer Brutalität glichen diese Maßnahmen dem wenig später eingeführten und Jahrhunderte lang geübten impressement service, der mit Hilfe von fast rechtsbefreiten Zwangsmethoden der Rekrutierung die Marine mit Seeleuten zu versorgen hatte.

[59] Der als Folge des Pluralisierungsdrucks, der auf der Moderne lastet, der steigenden Massennachfrage nach Identität entspricht.

[60] Das wurde nicht nur nach dem Commune-Debakel (1870/ 1871), sondern noch während der Épuration ab 1944 deutlich, wiewohl mit vertauschten Rollen, stammten die Pétainisten doch aus dem Bürgertum. Selbst die Singularität der französischen Sozialisten (PS), sprich die zähe Verweigerung der Deradikalisierung, speist sich aus dieser Tradition: Man benötigt die Diabolisierung des bürgerlichen Lagers, um sich profilieren zu können, selbst wenn man längst zum Etablierten zählt.